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Wo ist ein Mensch, der vergibt wie du? Ich würde gern rufen: Hier!

Eine Predigt von Pfarrer Bodo Meier.



Online-Predigt zum dritten Sonntag nach Trinitatis – 28. Juni 2020



Lieder zum Anhören, Genießen und Mitsingen:


Evangelisches Gesangbuch 673: Ich lobe meinen Gott, der aus der Tiefe mich holt



Evangelisches Gesangbuch 12: Gott sei Dank durch alle Welt



Predigt in Schriftform zum Nachlesen:


Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserem Vater und unserem Herrn Jesus Christus. Amen.


Sie alle beugten sich über die alte Schriftrolle, lasen und studierten sie. „Strafe muss sein!“ sprachen sie. Und alle nickten eifrig. Es waren Worte des alten Propheten Micha, die da vor ihnen lagen. Nun schon einige hundert Jahre alt. Micha klagte an. Und drohte mit Gottes Gericht.


Damals verstrickte sich das Volk Israel in politische Ränke. Es glaubte von sich, bestehen zu können vor seinen Feinden. Es schloss Bündnisse und schmiedete Kriegspläne – und verlor alles. Der Norden wurde erobert. Der Süden bekam einen Marionetten-König, völlig abhängig von den Siegern. Israel hatte verloren.


„Ja, ja, Strafe muss sein“, dachten da die Schriftgelehrten, die jetzt diese alten Worte des Propheten lasen und zu verstehen glaubten. „Damals waren die Zeiten auch unruhig. Die kleinen Bauern verloren ihre Äcker an die Großgrundbesitzer. Sie wurden ihnen einfach weggenommen. Kein Wunder, dass unser Gott dem ein Ende setzte. Natürlich musste der Prophet Micha für diese soziale Ausbeutung Gottes Gericht ankündigen.“ Das folgte denn ja auch. Israel hatte alles verloren: Seinen König, seinen Wohlstand, seine Unabhängigkeit.


Aber diese Zeiten sind schon lange Vergangenheit. Da waren sich alle einig, die diese alte Schriftrolle des Micha vor sich hatten. „Es wird Zeit, dass wir das alles hinter uns lassen. Die Strafe Gottes damals geht uns heute nichts mehr an. Heute haben wir wieder unseren gnädigen Gott. Hört euch an, was dieser Micha dann geschrieben hat: ‚Der Berg des Hauses Gottes wird fest stehen als Gipfel aller Berge.‘ Also bitte! Die Sünden der Vergangenheit sind Geschichte. Wir haben damit nichts zu tun. Unser Leben ist doch hier und jetzt. Es ist Frieden, kaum jemand hungert. Das ist ein guter Zeitpunkt, diese alten unschönen Geschichten ein- für allemal ruhen zu lassen. Schauen wir nach vorne. Der Gnade unseres gütigen Gottes gewiss sind wir nicht mehr die Verlierer aus vergangenen Tagen. Uns geht es besser als je zuvor.


Deshalb gehört dieser Prophet Micha nun auch abgeschlossen. Er erzählt ja doch nur von alten Zeiten, die uns nichts mehr angehen. Und mal ehrlich: Wer findet in der Bibel schon auf Anhieb diesen kleinen Propheten Micha. Liest doch sowieso keiner mehr. Lass uns noch ein schönes Schlusswort drunter schreiben und dann legen wir das Wort des Propheten in den Schrank und schließen zu.


Heutzutage hören wir lieber was Schönes, was Erbauliches. Wie vom verlorenen Sohn. Egal, was der Dummes und Schlimmes macht, der liebe Gott nimmt ihn doch wieder auf. So ist es ein schöner Gott, an den ich glauben will. Ein Gott, der mit harten Worten Strafe androht, ist ja schon aus pädagogischen Gründen nicht hinnehmbar. Lass also hören: Was hast du zum Abschluss des Michabuches geschrieben. Es ist wohl das siebte Kapitel:


‚Wo ist solch ein Gott, wie du bist, der die Sünde vergibt und erlässt die Schuld denen, die geblieben sind als Rest seines Erbteils; der an seinem Zorn nicht ewig festhält, denn er hat Gefallen an Gnade! Er wird sich unser wieder erbarmen, unsere Schuld unter die Füße treten und alle unsere Sünden in die Tiefen des Meeres werfen. Du wirst Jakob die Treue halten und Abraham Gnade erweisen, wie du unseren Vätern vorzeiten geschworen hast.‘


Das ist wirklich ein schöner Schluss. Wo ist ein Gott wie du? Ein prächtiges Gotteslob, würdig, die Schriftrolle zu schließen. In der Tat, welcher Gott vergibt schon die Schuld, immer und immer wieder, wie verloren der Sohn auch ist.“


Und während sich alle noch über den lieben Gott freuten, las einer noch einmal laut vor: „Welcher Gott erlässt die Schuld dem Rest, der geblieben ist.“ „Wie, dem Rest! Er hat doch längst vergeben. Das sieht man doch an uns. Uns geht es wieder gut. Wir sind doch die, die längst wieder im Licht der Liebe Gottes stehen. Wir sind doch kein Rest. Wir sind die, auf die es ankommt. Wo wir sind, ist vorne! Was redest du da von einem Rest?“


Wenn ihr glaubt, die Worte des alten Propheten einwickeln zu können und dann zum Vergessen wegzusperren, dann seid ihr wieder genau da, wo eure eigene Vergangenheit euch einholt. Gottes Vergebung und seine Gnade macht aus euch keine strahlenden Sieger, weil Generationen vor euch die Verlierer waren – und sie dafür bezahlen mussten. Ihr erntet nicht den Segen, den Eure Väter und Mütter verloren haben.


Habt ihr denn nicht gemerkt, dass das Scheitern aus der Vergangenheit immer auch Verlust in der Gegenwart bedeutet? Damals, als Israels Norden erobert wurde, sind wirklich Menschen gestorben. Gottes Gericht ist keine hohle Drohung. Damals, als Bauern enteignet wurden, sind wirklich Menschen verhungert. Gottes Gnade macht aus Verlierern keine Sieger, aus Schuldigen keine Unschuldigen. Wie billig wäre eine solche Gnade! So billig, wie ihr heute lebt.

Am Ende geht es nicht um unser Urteil über die Geschichte. Es geht um unsere Schuld in der Geschichte, die wir einfach fortschreiben. Unsere eigene Schuld, die wir nicht dadurch mindern, dass wir auf andere Menschen oder auf andere Zeiten zeigen.


Wenn wir heute in unserem Land gönnerhaft und solidarisch niederknien und symbolisch dem Rassismus entsagen, so geschieht das in derselben Sprache, mit der damals Millionen in sinnlose Tode gefoltert wurden. Die Schuld der Vergangenheit, die eine Strafe gar göttlichen Ausmaßes nicht tilgen könnte, ist noch immer unsere Verantwortung, auch unsere Schuld. Denn wir haben es nicht geschafft, unseren Kindern Menschenachtung und Menschlichkeit ins Herz zu geben.


Es sind doch die, die wir erzogen, die wieder menschenverachtend einschüchtern, brüllen, schlagen und töten. Wir haben versäumt, Freiheit als kostbares Gut zu lehren und wurden schuldig, nicht mehr zu unterscheiden zwischen „Rechte haben“ und „sich alles Recht nehmen“. Wie können wir uns beschweren über randalierende Jugendliche, die eine ganze Innenstadt zertrümmern. Es sind doch unsere Kinder.


„Strafe muss sein!“ rufen wir und alle nicken eifrig. Schuld und Sühne. Danach mag dann noch der liebe Gott mit seiner Gnade kommen.


Nein, ich will lieber mit Micha klagen: Nirgendwo ist ein Mensch, wie du, Gott, bist. Nicht erst nach dem gerechten Urteil vergibst du. Du fällst dem Rad unserer Urteile und Strafen in die Speichen und nimmst unsere Schuld, zermalmst sie unter deinen Füßen und wirfst sie ins tiefe Meer. Das ist keine Gnade, die billig ist. Das ist Gnade, die umsonst ist. Sie macht machtlos gegenüber aller Gewalt und allem Hass, denn sie liefert sich aus, und ist doch die mächtigste Waffe, beides zu besiegen.


Wir geben lieber eine billige Lebenshaltung von Generation zu Generation weiter, die Vergebung einfordert und damit jedes Recht auf persönliche Willkür meint.

Wenn ich aber vergebe, wo ich strafen könnte, dann erst lebe ich nach neuen Regeln in der alten Welt.


Wenn ich Strafe erwarte und erfahre Vergebung, dann endlich sind meine Füße auf weiten Raum gestellt. In die Freiheit, die allein diese Welt verändern kann, weil die Freiheit keine Angst mehr kennt, die mich stets zur Vergeltung und Verteidigung zwingt. Frei, weil ich Schuld nicht mehr verbergen muss, denn sie ist ja vergeben.


Wo ist ein Gott wie du, der Gefallen hat an solcher Gnade? Jedoch bleibt mir dieses Lob im Halse stecken, denn ich frage mich: Wo ist ein Mensch, der vergibt wie du? Ich würde gern rufen: Hier! Aber ich schweige. Amen.

Und der Friede Gottes, welcher höher ist als alle Vernunft, der bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.


Pfarrer Bodo Meier

Micha 7, 18-20

Dritter Sonntag nach Trinitatis

28. Juni 2020



Gebet

Gnädiger Gott! Wo ist solch ein Gott, wie du bist? Der die Sünde vergibt und erlässt die Schuld. Wo wir engstirnig auf unser Recht pochen, zeigst du deine Gnade. Wo wir mit unserer Geduld am Ende sind, zeigst du uns einen neuen Anfang.

Barmherziger Gott! Wir bitten dich um dein lebendiges Wort. Richte uns auf, wenn wir müde werden. Bring uns zurecht, wenn wir anderen Worten Glauben schenken. Wecke uns auf zu einem Leben mit dir.

Treuer Gott, du hast versprochen, Schuld zu zertreten und die Sünde in die Tiefen des Meeres zu werfen. Du lädst uns ein zu deiner Freude, die wieder in die Arme zu schließen, die verloren waren. Lehre uns diese Freude, damit Hoffnung werde für unser Leben. Amen.


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